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Die fortschreitende Digitalisierung hat viele Bereiche des tĂ€glichen Lebens grundlegend verĂ€ndert. Auch in Sachen Liebe ist nichts mehr so, wie es noch vor 15 oder 20 Jahren war. Wie sich unsere Sicht auf SexualitĂ€t und Beziehungen verĂ€ndert hat, ergrĂŒnden wir in diesem Beitrag.
Sex und Erotik sind in der westlichen Welt lÀngst allgegenwÀrtiger
Im Jahr 2012 gab das Top-Model Laetitia Casta ein vielbeachtetes Interview. Die damals 33-jĂ€hrige Französin monierte darin, dass Sex in der westlichen Gesellschaft allgegenwĂ€rtig sei. FĂŒr sie selbst habe Erotik weniger mit Nacktheit zu tun. Diese Aussage ist umso interessanter, als das Top-Model selbst jahrelang mit Ă€uĂerst freizĂŒgigen Auftritten fĂŒr Schlagzeilen sorgte. So erschien sie im Jahr 2010 zur Verleihung des Filmpreises âCesarâ in einem nahezu transparenten Kleid.
Die permanente Gegenwart von sexualisierten Darstellungen hat dazu gefĂŒhrt, dass immer schwerere GeschĂŒtze aufgefahren werden mĂŒssen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn in den 1960er-Jahren eine bekannte Schauspielerin wie Brigitte Bardot ein wenig Busen zeigte, stand die Weltöffentlichkeit Kopf. Heute lösen solche Bilder nicht mehr als ein Achselzucken aus. Selbst Weltstars wie Lady Gaga mĂŒssen heute alle Register ziehen, um beachtet zu werden. Pornofilme werden inzwischen wie Kinofilme rezensiert, und manche Sex-Blogs haben mehr Leser als groĂe Newsportale. Kurz gesagt: Wer beachtet werden will, muss sich etwas einfallen lassen. So entstehen immer neue TabubrĂŒche, was zwangslĂ€ufig dazu fĂŒhrt, dass die Grenzen des guten Geschmacks ein ums andere Mal ĂŒberschritten werden.
In Stimmung zu kommen wird immer schwieriger
Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts genĂŒgte ein entblöĂtes Frauenknie, um einen Mann zu erregen. In den 50er- und 60er-Jahren waren Oben-ohne-Fotos das höchste der GefĂŒhle. Mit dem Aufkommen von Pornos fĂŒr den Heimgebrauch Ă€nderte sich die Situation ein wenig: Wer sich mit bewegten Bildern in Stimmung bringen wollte, musste dazu nicht mehr den Weg ins Bahnhofsviertel antreten. An eine flĂ€chendeckende VerfĂŒgbarkeit von pornografischen Bildern und Videos war in den 80er- und 90er-Jahren jedoch nicht zu denken, da die dafĂŒr benötigte Technologie nicht zur VerfĂŒgung stand.
Seitdem es schnelle Internetverbindungen gibt, hat sich unsere Einstellung zu pornografischen Inhalten vollkommen gewandelt. Der sexuelle Akt ist in der heutigen Zeit nichts Besonderes mehr â ein paar Klicks, und schon hat man Dutzende von Video-Empfehlungen auf dem Schirm. Abgedeckt werden nahezu alle sexuellen Vorlieben und Spielarten, sodass praktisch jeder Internetnutzer auf seine Kosten kommt. Zudem sind die meisten Internet-Angebote gratis â kostenpflichtig sind in der Regel nur Premium-Accounts, die dem Nutzer Zugang zu hochauflösenden Videos und Bonusmaterial verschaffen.
Die stĂ€ndige Ăberflutung mit sexuellen Reizen hat in den letzten Jahren derart zugenommen, dass es immer schwieriger wird, MĂ€nner in Stimmung zu bringen. Glaubt man den ErzĂ€hlungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, schauen sich mĂ€nnliche Internetnutzer schon vor Unterrichtsbeginn die ersten Pornos und Sexbilder an. Dies schlieĂt auch 3D-Pornos mit animierten Avataren ein, die sich einer immer gröĂeren AnhĂ€ngerschaft erfreuen. In Japan soll es bereits MĂ€nner geben, die sich nur noch von 3D-Avataren angezogen fĂŒhlen und kein Interesse mehr an realen Frauen haben.
Doch auch die Partnerfindung, Dating und Beziehung haben sich durch die Digitalisierung verÀndert. Der u.a. von der Zeitschrift The Atlantic geförderte Kurzfilm xoxosms zeigt das sehr eindeutig:
Warum die Digitalisierung eine neue sexuelle Revolution sein könnte
Die durch die 68er geschaffenen gesellschaftlichen VerĂ€nderungen gingen mit einer sexuellen Befreiung einher, die von Historikern gerne als die gröĂte UmwĂ€lzung der zurĂŒckliegenden Jahrzehnte bezeichnet wird. TatsĂ€chlich aber haben uns das Internet und die Digitalisierung eine viel gröĂere Sex-Revolution beschert. Im Unterschied zu den 68ern, die ihr Wissen vor allem aus esoterischen BĂŒchern sowie aus eigenen Erfahrungen bezogen, können wir heute nahezu alles, was es ĂŒber Sex zu wissen gibt, im Internet finden. Dieses gewaltige Informationsangebot ist die vielleicht bedeutendste sexuelle Revolution aller Zeiten â viel revolutionĂ€rer als das, was die weltweite Studentenbewegung bewirkte.
Wie schon in den 60er-Jahren stoĂen die VerĂ€nderungen, die die durch das Internet ausgelöste Informationsflut mit sich bringt, nicht ĂŒberall auf Gegenliebe. Schon vor Jahren sprachen die Kommentatoren der Leitmedien von einer Jugend, die âoversexedâ sei. YouPorn, Tinder, After Sex Selfies â die neue FreizĂŒgigkeit hat das Alltagsverhalten der jĂŒngeren Generation so stark verĂ€ndert, dass man sie schon als âGeneration Pornoâ bezeichnet. Es lĂ€sst sich kaum abstreiten, dass Erotik und Sex lĂ€ngst zu einem festen Bestandteil der Mainstream-Erlebniskultur geworden sind. Diese âPornografisierungâ, so die Gegner der sexuellen Dauerberieselung, vergiftet unser Beziehungsleben und setzt gerade die MĂ€nner unter einen enormen sexuellen Druck.
Sex – Nr. 16 – #Onlinegeister
Podcast: Play in new window | Download | Embed Sex: Der liebste Sport des Menschen und das wohl Ă€lteste Gewerbe der Welt penetriert natĂŒrlich auch das Internet. Nach manchen Studien sollen 10 Prozent des Internets nur aus Pornografie bestehen. Doch wie funktioniert Sex online – das erklĂ€rt uns zur Abwechslung Tristan, der ĂŒberraschend eifrig diese Ausgabe tiefgehend recherchiert hat.
Auf der anderen Seite hat die DauerprĂ€senz von erotischen Inhalten den Umgang mit sexuellen Themen, die frĂŒher als Tabus galten, erheblich vereinfacht. Als Beispiel sei hier die SM-Trilogie â50 Shades Of Greyâ genannt, deren Verfilmung zum Kassenschlager avancierte. Die Verklemmtheit der NachkriegsĂ€ra ist einer sexuellen Offenheit gewichen, die sich quer durch alle Altersgruppen zieht. In Internetforen berichten User ungeniert von ihren sexuellen Abenteuern und sparen dabei kein Detail aus. Live-Ăbertragungen von Preisverleihungen der Sexfilmbranche sind regelrechte Blockbuster, die man sich gemeinschaftlich via Internet ansieht und kommentiert.
Entwicklung: Das echte Sexleben verkĂŒmmert
Die Alltagserfahrung zeigt, dass diejenigen, die gerne mit After-Sex-Selfies prahlen und freimĂŒtig vom letzten One-Night-Stand erzĂ€hlen, mit ihrem Sexualleben besonders unzufrieden sind â zumindest einige von ihnen. Einer aktuellen Studie zufolge haben 48 Prozent der jungen Japaner keinen regulĂ€ren Sex. Noch dĂŒsterer sieht es im Land der aufgehenden Sonne bei den jungen Frauen aus â hier sind 51 Prozent der Teilnehmerinnen sogar dann abstinent, wenn sie in einer festen Beziehung leben.
Vieles deutet darauf hin, dass die stĂ€ndige VerfĂŒgbarkeit von sexuellen Inhalten einen hohen Preis hat, nĂ€mlich ein Absinken der Libido. Frauen und MĂ€nner, die nach 1990 geboren sind, haben in ihren Zwanzigern offenbar deutlich weniger Sex als ihre Eltern und GroĂeltern im gleichen Alter. Zu diesem Ergebnis kommt neben der oben erwĂ€hnten Studie auch ein Artikel der Fachzeitschrift âArchives of Sexual Behaviourâ aus dem Jahr 2017. WĂ€hrend junge Amerikaner 1989 noch 60-mal Sex hatten, so die Autoren, waren es 2014 nur noch 52-mal.
Spiel, Sex, Sucht: Wie AbhÀngigkeiten sich online manifestieren
Jeder kennt das GefĂŒhl mal richtig Lust auf etwas zu haben, was man schon lange nicht mehr getan hat? Zum Beispiel ein Spiel spielen, ein Glas Wein trinken oder sich und seinen Partner mal wieder richtig verwöhnen? Was man dazu braucht, lĂ€sst sich leicht ĂŒber das Internet besorgen.
Zu beachten ist, dass Sex nicht mit âsexuelle BetĂ€tigungâ verwechselt werden darf. Berichte von Sexualtherapeuten zeigen, dass immer mehr junge MĂ€nner Sex mit ihrer Partnerin vermeiden, aber eine ausgeprĂ€gte sexuelle SelbstbetĂ€tigung haben. Dabei lassen sie sich fast immer durch multimediale Internetpornografie stimulieren, von der die Partnerin normalerweise nichts weiĂ. Ohne Frage spielt dabei eine Rolle, dass eine Partnerin Aufmerksamkeit und Zuneigung erwartet. Wer sich mit Hilfe von Online-Pornos selbst befriedigt, hat es in dieser Hinsicht bedeutend einfacher: Der Bildschirm gibt dem Nutzer sexuelle Stimulation und stellt keine Forderungen.
Fremdgehen: Kein Volkssport trotz Digitalisierung
Das Internet bietet nahezu unbegrenzte Kontaktmöglichkeiten. Die Palette reicht von Partner-Portalen ĂŒber Dating-Apps bis hin zu Plattformen, ĂŒber die man im Handumdrehen Sexualkontakte finden kann. Trotzdem sind die meisten Menschen, die in einer festen Beziehung leben, ihrem Partner treu. Laut einer reprĂ€sentativen Befragung der Online-Vermittlung âParshipâ haben lediglich 25 Prozent der MĂ€nner ihre Partnerin schon einmal betrogen. Von den teilnehmenden Frauen sagten nur 13 Prozent, dass sie schon einmal untreu waren. Die Vermutung, dass die Digitalisierung das Fremdgehen fördert, bestĂ€tigt sich somit nicht.
Eine auf Statista veröffentlichte Umfrage offenbart, dass 51 Prozent der Deutschen es als Untreue ansehen, wenn der Partner sich auf einer Flirt- bzw. Dating-Webseite anmeldet. Eine lĂ€ngerfristige AffĂ€re bezeichnen 88 Prozent der Befragten als eindeutiges Fremdgehen. Einmaliger Sex mit einem Anderen wird von gut zwei Drittel der Teilnehmer als Fehltritt angesehen, der nicht verziehen werden kann. Auch bei Bordell-Besuchen verstehen die Befragten keinen SpaĂ: 67 Prozent geben an, ihrem Partner einen solchen Fauxpas nicht verzeihen zu können.
Diese Zahlen machen eines deutlich: Der Seitensprung wird von den meisten sexuell aktiven Menschen nach wie vor als rote Linie betrachtet, die nicht ĂŒberschritten werden darf. Das Anschauen von Pornos wird dagegen von gerade einmal 7 Prozent der Befragten als unverzeihliches Fremdgehen interpretiert. Es sieht so aus, als ob der uneingeschrĂ€nkte Zugang zur Pornografie inzwischen eine gewisse Akzeptanz erreicht hat. Eines ist sicher: Die Zeit lĂ€sst sich nicht zurĂŒckdrehen â auch wenn sich dies viele Leute wĂŒnschen. Ob und wie die Gesellschaften des Westens die aufgezeigten Entwicklungen verkraften, wird die Zukunft zeigen.